Was und wieso?

Jänner 2021

Seit 2020 bin ich vollwertiger Eigentümer der Villa Kinsele in Oberbozen. 1969 hat meine Mutter sie von ihrer Tante geerbt. Ich habe darin fast alle Sommer meiner Kindheit und Jugend verbracht. Die dortige Atmosphäre sowie das Ambiente der historischen Oberbozner Sommerfrische haben mich mitgeprägt. Meine Mutter (Jahrgang 1926) hat mir viele Geschichten aus den früheren Jahren Oberbozens erzählt, die Familie ihrer Schwester wohnt seit den 40er-Jahren in der Nähe, mein Onkel war über Jahrzehnte Schriftführer der dortigen Schützengesellschaft.

Ich wusste, dass das denkmalgeschützte Haus den Namen einer früheren Eigentümerfamilie hat, welche es meiner Großtante 1943 verkauft hatte. So einige private Gegenstände waren im Haus zurückgeblieben und schon als Kind sah ich mir gerne die alten Fotografien und Grafiken an, die für mich unverständlichen handschriftlichen Briefe, die alten Bücher in Kurrentschrift auf dem Dachboden. Aus den Erzählungen der Eltern erfuhr ich, dass eine Tochter des Hauses Kunstmalerin gewesen sei, dass dort, wo die geschäftstüchtige Großtante eine kleine Wohnung im Obergeschoss errichten ließ, vorher ein einziger großer Raum war, der als Musikzimmer und Salon der Sommerfrischgesellschaft diente. Ich vernahm mehrmals die Vermutung, dass in unserem Haus, das mit dem angebauten sogenannten Wegerhaus, der Kirche Maria Schnee und einem ehemaligen Bauernhaus einen Gebäudekomplex bildet, die ins Kloster eingetretenen Töchter der vermögenden Bozner Handelsherren den Sommer verbracht haben könnten.

Doch all das blieb in den Jahren eine ungeordnete Ansammlung von alten Schriftstücken, verblichenen Fotografien, einigen Aktzeichnungen, manchen Geschichten und vielen Vermutungen. Auch der Familienname Kinsele ist mir in den ganzen Jahren nie in der Form eines Zeitgenossen begegnet. Aber ich spürte seit jeher deutlich, dass dieses Haus eine interessante Geschichte verbergen muss, dass die vorige Eigentümerfamilie es verdient, dass man sich mit ihr und ihren Zeitumständen befasst.

Nach der Übernahme der Villa Kinsele im Jahre 2020 als Folge des Erlöschens des Fruchtgenussrechtes meines Vaters wurde deutlich, dass Renovierungsarbeiten anstehen. Damit diese den vielfältigen Erfordernisse des Wohnens, aber auch dem Wesen des Gebäudes gerecht werden, ist eine intensive Beschäftigung mit ihm notwendig. Was ist inzwischen zu ersetzen, was ist in jedem Fall zu erhalten, wie können heutige Wohngewohnheiten berücksichtigt werden, welche Anpassungen an die Energie- und Wärmeversorgung sind zu machen, welche vorigen Bausünden können rückgängig gemacht werden, was sagt das Denkmalamt dazu? Das war der ausschlaggebende Anlass, sich systematisch mit der Villa Kinsele zu beschäftigen. Schnell merkte ich, dass sich mein Interesse nicht auf die ehrwürdigen Mauern beschränken wollte, ich musste die Menschen darin miteinbeziehen.

Nachtrag

Dezember 2025

Fünf Jahre sind dahingegangen, seitdem ich den obigen Text verfasst habe. Inzwischen hat sich mancherlei ereignet. Das Hauptanliegen jedoch – dem Hause seine einstige Würde wiederzugeben und zugleich dessen Bewohnbarkeit zu mehren – dürfte als erfüllt gelten. Vom März des Jahres 2021 an bis in den Juni 2025 erstreckten sich die Arbeiten, welche mit der detaillierten Vermessung des Gebäudes ihren Anfang nahmen und mit der Vollendung des Parkplatzes an der neu geschaffenen, zweiten Einfahrt ihr ersehntes Ende fanden. Ich darf mich glücklich schätzen, bei der Ausführung des Unternehmens einen Architekten von bewährter Einsicht und feinem Empfinden an meiner Seite gehabt zu haben, mit dem ich mich in nahezu allen Fragen des Entwurfs und der Ausführung einig wusste. Ebenso stand mir eine Anzahl tüchtiger Handwerker zur Verfügung, Männer ihres Faches, deren Können nicht selten über das Handwerkliche hinaus in das Gebiet der Kunst hinüberreichte. Auch ein, durch Erbschaft mir zugefallener, finanzieller Rückhalt trug dazu bei, das Werk in seiner heutigen Gestalt möglich zu machen. Die segensreiche Mitarbeit des Denkmalamtes möchte ich gleichfalls anerkennend erwähnen, obgleich die durch personelle Beschränkungen bedingten Verzögerungen, sowohl in der örtlichen Betreuung wie in der Buchhaltung, unseren Gleichmut mehrmals auf die Probe stellten.

Dem anfänglichen Ansinnen, die Geschichte jener Männer und Frauen, welche im Laufe der Jahrhunderte mit dem Hause in einem lebendigen Zusammenhang standen, einer näheren Betrachtung zu unterziehen, sodann die wechselvolle Vergangenheit der baulichen Anlagen selbst zu ergründen und nicht minder die geschichtlichen Bezüge des Oberbozner Umfeldes in hellerem Lichte erscheinen zu lassen, widerfuhr jenes Geschick, das wohl so manchen Unternehmungen auf dem Felde laienhafter Geschichtsforschung beschieden ist: Jener zähe, nur selten siegreiche Kampf wider die Neigung, vom Hundertsten ins Tausendste zu geraten, den Blick für das eigentliche Ziel zu verlieren und allzu viele Gegenstände der Ergründung gleichzeitig betreuen zu wollen.

So ist denn dieses digitale Tagebuch im Laufe der Zeit zu einer eigentlichen Geschichtsquelle herangewachsen, das weit über die bloßen Schicksale der Villa Kinsele hinausgreift und nunmehr jedem zur nützlichen Lektüre gereichen mag, dem die Geschichte Oberbozens im weitesten Sinne am Herzen liegt. Denn das Wissen hierüber ist in der Bevölkerung, leider, nur von geringem Umfange, so dass ich genötigt war, mir meine bescheidenen Erkenntnisse auf mühsamem Wege selbst zu erarbeiten. Nicht selten wurde mir dabei versinnbildlicht, dass unter Blinden selbst der Einäugige zum Könige wird. Doch ist der Wille, weiteres geschichtliches Material ans Licht zu fördern, noch ungebrochen. Möge dieses eine Auge, das sich der Suche nach dem Verschollenen verschrieben hat, noch lange sehkräftig bleiben, um die Schatten der Vergangenheit zu erhellen.

image_pdf